Mit John Askew, Mirjam Bürgin, Françoise Caraco, Klodin Erb, île flottante | Nica Giuliani & Andrea Gsell, Sabine Hagmann, Susana Perrottet, Romy Rüegger
Kuratiert von Françoise Caraco und Sabine Hagmann
Unter dem Titel „Reality Check“ verbinden Françoise Caraco und Sabine Hagmann als Künstlerkuratorinnen ihre eigenen mit Werken sieben weiterer KünstlerInnen. Der Begriff „Reality Check“ impliziert eine wechselseitige Konfrontation der Realität mit eigenen Vorstellungen. In ihrer Schau untersuchen Caraco und Hagmann diesen Begriff. Alle gezeigten Arbeiten nehmen einen Teil der Wirklichkeit als Ausgangslage auf, transformieren ihn und stellen so individuelle Antworten auf das Zusammenspiel beider Welten – Realität und Fiktion – dar. Die ausgewählten Werke sind geprägt von dokumentarischen und narrativen Strategien und vollziehen alle auf unterschiedliche Weise einen „Reality Check“. Obwohl damit das erzählerische Moment ins Zentrum der künstlerischen Arbeiten rückt, ist die Narration als reine Fiktion nicht von Interesse. Vielmehr sind die Kunstwerke eigene Interpretationen der Wirklichkeit und stellen so einen Versuch dar, sich zu der realen Welt in Bezug zu setzen. Neue Erzähl- und Ereignisräume eröffnen sich und lassen Raum für das Erleben der BetrachterInnen.
Die eingeladenen KünstlerInnen bedienen sich verschiedener Arbeitsmittel und kombinieren diese miteinander. Es verbinden sich räumliche Eingriffe, Fotografie, Audio, Radio, Zeichnung, Video sowie Malerei zu neuen Positionen. Die Ausstellung zeigt, dass sich die den Medien gängigerweise zugesprochenen Eigenschaften auflösen. So kann die Fotografie im Feld des „Reality Checks“ beispielsweise ihren rein dokumentarischen Charakter ablegen und die Malerei wird nicht mehr nur mit Fiktion in Verbindung gebracht. Die Fragen danach, wie Wirklichkeit wahrgenommen, wie sie festgehalten, wie sie in ein Werk transformiert und wie sie durch künstlerische Arbeit neu geschaffen wird, bilden dabei das Leitinteresse und den Anstoss für die zusammengestellte Gruppenschau.
Romy Rüeggers talktalk findet als Satellit der Ausstellung im Aussenraum Platz. Eine stündige Live-Radiosendung wird am Abend der Ausstellungseröffnung aus dem KECK Kiosk am Eingang des Kasernenareals gesendet. Die Arbeit mit dem Untertitel Original Voices – Speaking in the Words of Others inszeniert eine Vernissageberichterstattung in einer Mischung von Gesprächssituation und Hörspiel. Charles und John Cage („sechzig Antworten auf dreiundreissig Fragen“) sowie ein Gespräch zwischen Hans-Ulrich Obrist und Hans-Peter Feldmann. Die Sendung wird live auf livingroom.fm gesendet und zudem über einen Internetstream in den Ausstellungsraum übertragen. Sie ist im KECK Kiosk während der Dauer der Ausstellung als Hörspiel weiterhin präsent. Ein von der Decke hängendes Mikrofon funktioniert gemeinsam mit anderen Elementen in dem ehemaligen Kioskhäuschen als Überbleibsel der Sprachperformance und konfrontiert die Passanten mit den Spuren des vergangenen Geschehens.
Auf eine andere mediale und narrative Ebene begibt sich John Askew mit seiner fotografischen Arbeit three sisters. Auf einem kleinen, digitalen Bilderrahmen zeigt der Künstler eine Auswahl von Fotografien, die über mehrere Jahre hinweg in Russland bei einer befreundeten Familie entstanden sind. Anfangs waren es blosse Erinnerungsfotos seiner Reisen, mittlerweile bilden diese jedoch einen wichtigen Teil von Askews künstlerischer Arbeit. Als Motive der Bilder wählt er Familienmitglieder und deren Freunde sowie Essen, Blumen, Tiere oder Landschaften. Dabei sind die Komposition und der Einfall des Lichts von grosser Wichtigkeit. Obwohl die Bilder für Askew unterdessen als Familienfotos funktionieren, begibt er sich gleichzeitig selbst in die Rolle des Aussenseiters. Aufgrund der Sprachbarriere ist eine Verständigung mit der Familie kaum möglich und der Künstler bleibt oft nur Beobachter. So sucht er einen anderen Weg der Interaktion: Er kreiert durch seine Bilder eine eigene Geschichte der ihm nahestehenden Familie und lässt uns als Betrachtende daran teilhaben.
Klodin Erbs Werk, Von Kapstadt zum Nordkap, besteht aus 48 für die Ausstellung neu entstandenen, gemalten Bildern im Format 24 x 30 cm. Sie zeigen abstrakte, aus Erinnerungen der Künstlerin gefertigte ‚Landschaften’. Die Malereien weisen einen pastosen, schwarzweissen Acrylfarbauftrag auf. Das Gefühl einer Flut abstrakter Landschaften ausgesetzt zu sein, wird durch die nahe Betrachtung des Werks evoziert. Mittels eines distanzierten Blicks auf die gesamte Bildgruppe entsteht eine Veränderung in der Rezeption. Man meint in den einzelnen Gemälden figurative Situationen oder bekannte Szenerien zu erkennen. Die reliefartigen Kompositionen erinnern an das Genre der Landschaftsmalerei. Anhand der von der Künstlerin vorgegebenen Hinweise kombiniert der Betrachtende seine Vorstellungen mit seinem individuellen Bildspeicher. Es entstehen so immanente Bilder, welche einer subjektiven Erfahrung entsprechen. Der fiktive Titel kann als eine imaginäre Reise (durch die Geschichte der Landschaftsmalerei) verstanden werden.
Mit der ihrer Video/Audio-Installation Das Gruppenbild lotet Françoise Caraco den Moment zwischen dem Erzählen und dem Nichterzählen einer Geschichte aus. Die Künstlerin eröffnet anhand Fotografien und Textfragmenten neue Erzählräume, die sich um das Thema unserer Gesellschaft und deren AkteurInnen drehen. Eine Frauenstimme spricht in einem Monolog von einer Gruppe, gegen welche ermittelt wird. Warum und inwiefern haben die Mitglieder der genannten Gruppe gegen das Gesetz verstossen? Der Ermittlungsgrund wird nie erwähnt und bleibt offen für Interpretationen. Nach einem Prolog in filmischer Form erscheinen analoge Schwarz-Weiss-Fotografien als Standbilder auf die Wand projiziert. Die menschenleeren Situationen zeigen Spuren von Handlungen an einem Ort. Es entsteht eine ‚Pause des Daseins’ indem die Bilder gleichsam stillstehen. So werden Assoziationen von soeben Geschehenem oder Zukünftigem wach und verbinden sich mit dem tatsächlich Gezeigten.
Das Künstlerinnenduo île flottante, bestehend aus Nica Giuliani und Andrea Gsell, zeigt eine Videoarbeit, welche durch Tonspuren von Lilian Beidler ergänzt wird, die über einen Köpfhörer rezipierbar sind. Der Titel des Werks wechselt über die Ausstellungsdauer hinweg täglich. Die Titel sind gefundene Bruchstücke aus Meldungen der Tagespresse. Im Video schwenkt die Kamera durch einen bewohnten Innenraum und zeichnet diesen sukzessive auf, indem sie sich 360 Grad um die eigene Achse dreht. Die Ton- und Geräuschekulisse ist nicht klar definierbar, bleibt damit offen und lässt sich nicht verorten. Durch das Zusammenspiel der fragmentarischen Versatzstücke hinsichtlich Bild, Ton und Titel der Arbeit tun sich subjektive Imaginations- und Narrationsräume auf und integrieren so den Betrachtenden mit ins Werk. Es entstehen individuell wahrnehmbare Geschichten, die immer wieder etwas anderes erzählen, die sich über die Dauer der Ausstellung erstrecken, verändern und somit den Spielraum der Interpretation ausweiten.
Die Künstlerin Sabine Hagmann tritt in ihrer Arbeit affinities in einen Dialog mit drei verschiedenen Menschen
aus ihrem Umfeld und umkreist damit das Thema Herkunft und Identität. Die Gespräche drehen sich um Zugehörigkeit, Sehnsucht, Identitätssuche und das Gefühl, sich an einen Ort hingezogen zu fühlen. Die aus den Interviews resultierenden Versatzstücke der Realität werden in einer spürbar rohen Fassung, jedoch nicht ungeschnittenen Version wiedergegeben. Dadurch entstehen interessante Über- und Verlagerungen der einzelnen Konversationen. Die zu den Gesprächen gehörige Fotowand, aus dem Bildarchiv der Künstlerin zusammengestellt, zeigt eine Auswahl von neun Bildern. Diese evozieren im Zusammenhang mit dem Gehörten Fragen in Bezug auf das individuelle alltägliche Dasein. Die Fotografien sollen die geführten Dialoge nicht illustrieren, vielmehr sind sie gleichwertiger Teil der Installation und verändern unseren Blick auf die Konversationen.
Mirjam Bürgins installative Arbeit Überblendung ist Ergebnis eines bewussten Umgangs mit der Realität. Gefundene Materialien, ob vorgefundene Zustände im Raum oder Objekte aus dem Alltag bilden den Ausgangspunkt für Bürgins Schaffen. Sie verändert, stülpt um, befragt und interveniert. So entkleidet sie für „Reality Check“ eine Wand des Ausstellungsraums, indem sie den Raum wortwörtlich aufbricht. Ihre Intervention offenbart das Innenleben einer in den Raum eingebauten Trennwand. Spuren der Nutzung werden sichtbar und verweisen auf die Vergangenheit und die Geschichte dieser Fläche. In der Fortsetzung ihrer Arbeit im hinteren Teil des Raumes spielt Bürgin auf das Verhältnis von Bild und Abbild anhand von schwarzem und weissem Styropor an. Solche zweifarbigen Styroporplatten entstehen dann, wenn im Produktionsprozess die Farbe gewechselt wird. Die Verbindung des unterschiedlich gefärbten Materials erzählt damit vom Übergang sowie vom Anfang und dem Ende einer Geschichte.
Die Videoarbeit Percepción von Susana Perrottets dreht sich um Subjekte verschiedener Wirklichkeiten. In Form eines Animationsfilmes werden Geschichten von Personen aus Lima erzählt. Diese Aussagen und Berichte über Magie, Aberglaube und das Übersinnliche hat die schweizerisch-peruanische Künstlerin in Lima aufgenommen und gesammelt. Die Geschehnissen und Aussagen hat Perrottet anhand eines schnellen und skizzenhaften Stils in Tuschezeichnungen übersetzt. Die minimalistischen Zeichnungen illustrieren die spanisch sprechenden Stimmen, indem sie subtil mit kleinen Veränderungen die erzählte Geschichte veranschaulichen. Die Künstlerin zögert nicht, die kaum abbildbaren, oft von Mythos und Aberglauben gefärbten Erzählungen in gegenständliche Motive umzusetzen. Diese Phantombilder zusammen mit den dokumentarischen Stimmen eröffnen eine neue Dimension einer Wahrnehmungsebene und durchdringen diese wechselseitig.
Lea Hess
John Askew (*1960)
Mirjam Bürgin (*1967)
Françoise Caraco (*1972)
Klodin Erb (*1963)
Sabine Hagmann (*1965)
Île flottante | Nica Giuliani & Andrea Gsell (*1980 & *1974)
Susana Perrottet (*1975)
Romy Rüegger (*1983)